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Die sprichwörtliche Blindheit

Eine notwendige historische Erinnerung: »Der Feind steht rechts«

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 8 Min.

Morddrohungen gegen Linkspolitiker durch den »NSU 2.0«, der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der versuchte Anschlag auf eine Synagoge in Halle, das rassistische Attentat von Hanau, das acht Menschen mit Migrationshintergrund aus dem Leben riss, rechte Umtriebe in Bundeswehr und Polizei, Faschisten wie Björn Höcke in Landesparlamenten. - Wer heute dem ausuferndem Rechtsterrorismus begegnen will, sollte wissen, dass mit ihm bereits in den frühen 1920er Jahren der Weg zur Zerstörung der Weimarer Republik beschritten worden ist.

»Schlagt ihre Führer tot!« So hieß es auf einem Plakat der »Antibolschewistischen Liga«. Ermordet wurden nicht nur Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, auch Kurt Eisner, Hugo Haase, Karl Gareis, Matthias Erzberger, Walther Rathenau. Letzterer, also jener jüdische Unternehmer, der im Februar 1922 in das Amt des Außenministers eingeführt worden war und den mit Sowjetrussland abgeschlossenen Vertrag von Rapallo durchgesetzt hatte, war im Frühjahr und Sommer 1922 ins Visier deutscher Rechtsterroristen geraten. Obgleich dieser die internationale Isolierung Deutschlands aufzubrechen half, war er jedoch allen völkischen, nationalistischen und antikommunistischen Kreisen ein Dorn im Auge. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) forderte sogar, die deutsche Regierung müsse vor dem Staatsgerichtshof angeklagt werden, weil sie eine zu nachgiebige und daher »verbrecherisch« zu nennende Politik betreiben würde. In diesem Sinne trat der Bankier Karl Helfferich - während einiger Jahre vor dem Ende des Ersten Weltkrieges Vizekanzler und nun einer der führenden deutschnationalen Politiker - am 23. Juni 1922 im Reichstag auf. Am Morgen des nächsten Tages wurde Rathenau ermordet, als er im offenen Wagen durch Berlin-Grunewald fuhr, um ins Auswärtige Amt zu gelangen.

Das Attentat rief Erschütterung und Empörung hervor. Als am 24. und 25. Juni der Reichstag über den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Republik zu debattieren begann, stieß die Nachricht von der neuerlichen Untat auf Entrüstung und Protest der parlamentarischen Mehrheit. Reichskanzler Joseph Wirth hielt eine leidenschaftliche, von tiefer Trauer erfüllte Rede, an deren Ende er - auf die rechte Seite des Plenums schauend - erklärte: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt: Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel, dieser Feind steht rechts.« Rhetorisch brillant und von unerhörter Wirkung stellte sie zweifellos einen der Höhepunkte in der Geschichte deutscher Parlamente dar.

Wirths Ansprache richtete sich in ihrer Gänze gegen die Mörder und ihre geistigen Urheber. Die Herren, die dafür die Verantwortung tragen, »können das niemals mehr vor ihrem Volke wieder gutmachen«. Von den Deutschnationalen, insbesondere vom Fraktionsvorsitzenden der DNVP, Oskar Hergt, habe er erwartet, »dass heute nicht nur eine Verurteilung des Mordes an sich erfolgt, sondern dass diese Gelegenheit benützt wird, einen Schnitt zu machen gegenüber denen, gegen die sich die leidenschaftlichen Anklagen des Volkes durch ganz Deutschland erheben. Ich habe erwartet, dass von dieser Seite heute ein Wörtchen falle, um einmal auch die in Ihren eignen Reihen zu einer gewissen Ordnung zu rufen, die an der Entwicklung einer Mordatmosphäre in Deutschland zweifellos persönlich Schuld tragen.« Einem anderen Abgeordneten der DNVP hielt er vor, verlangt zu haben, dass das ganze System zum Teufel gejagt werden müsse, weil »eine deutsche Regierung, aber keine Ententekommission« gebraucht würde. Man dürfe sich daher nicht »über die Verwilderung der Sitten« wundern: »Wir haben in Deutschland geradezu eine politische Vertiertheit.« Es sei eine Atmosphäre geschaffen worden, in der auch »der letzte Funke politischer Vernunft erloschen ist«.

Bevor Wirth seine Rede mit dem Wort »Dieser Feind steht rechts« abschloss, appellierte er noch einmal eindringlich: »In jeder Stunde, meine Damen und Herren, Demokratie! Aber nicht Demokratie, die auf den Tisch schlägt und sagt: Wir sind an der Macht! - Nein, sondern jene Demokratie, die geduldig in jeder Lage für das eigene unglückliche Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht! In diesem Sinne, meine Damen und Herren, Mitarbeit! In diesem Sinne müssen alle Hände, muss jeder Mund sich regen, um endlich in Deutschland diese Atmosphäre des Mordes, des Zankes, der Vergiftung zu zerstören!«

Über politische Grenzen hinweg formierte sich damals eine breite Protestbewegung gegen den Terror von rechts. Sie ging von den großen Arbeiterorganisationen aus, jedoch beteiligten sich an ihr auch andere demokratische Parteien und ebenso die Reichsregierung. Am Tag der Trauerfeier für den toten Minister schloss sich desgleichen die preußische Regierung mit all ihren Behörden dem Streik an. Die Feier selbst wurde in allen großen deutschen Städten zu einer Demonstration für die Republik. In einigen Großstädten waren es mehr als 100 000 Menschen, die für die Republik auf die Straße gingen. Es schien, als könnte die gespaltene Linke näher zusammenrücken. Noch am Tag der Ermordung war es im Ruhrgebiet zu Trauer- und Protestkundgebungen gekommen: In Bochum, Essen, Gelsenkirchen nahmen jeweils bis zu 70 000 Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und andere Demokraten an den Kundgebungen teil.

Wirths Argument »Dieser Feind steht rechts« verbreitete sich rasch in allen deutschen Landen, häufig in jener viel bekannteren verkürzten Form, die da verallgemeinerte: Der Feind steht rechts. Indessen war der Satz nicht neu. Dass er es als bürgerlicher Politiker und als Reichskanzler aussprach, verlieh dem Wort bedeutungsvolles Gewicht. Der Feind steht rechts - Erkenntnis und Formulierung gehörten in den Reihen der proletarischen Bewegungen seit langem zu selbstverständlicher Gewissheit. Immerhin waren Sozialdemokraten und Gewerkschafter Jahrzehnte hindurch als Feinde von Thron und Altar, als Feinde der Nation und »Vaterlandsverräter« beschimpft worden. Sie hatten über sich ergehen lassen müssen, was zum Beispiel 1911 in der Zeitschrift »Jugend« gedichtet worden war:

»Der Sozi, rötlich und gemein

hat Hörner, Schwanz und Hinkebein.

Er hasst die Kirche, lieber Sohn,

und stinkt auf 100 Meilen schon.«

Solche Verteufelung der Linken ging stets einher mit der sprichwörtlichen »Blindheit« auf dem rechten Auge, und das auch bei jenen Parteien, die sich selbst in der so genannten Mitte verorteten und in den Rechten keine »Feinde«, allenfalls nur Gegner und Rivalen sahen. Die der deutschen Sozialdemokratie nahestehende satirische Zeitschrift »Der wahre Jacob« kennzeichnete das Verhalten insbesondere der Nationalliberalen mit den Worten zu: »Der Feind steht links, der Gegner rechts!« Ein Schelm, wer da an Äußerungen heutiger Politiker und Verantwortungsträger aus konservativen und liberalen Kreisen denkt?

Der Satz »Der Feind steht rechts« geht unmittelbar auf Philipp Scheidemann zurück, der ihn im Herbst 1919 erstmalig in seinen Reden und 1922 nach dem überstandenen Attentat verwendete. Auch Otto Wels, Mitglied des SPD-Parteivorstandes, sprach ihn aus, als er am 30. März 1920 im Reichstag den Kapp-Lüttwitz-Putsch geißelte. Doch in den Sprachgebrauch der Deutschen ging das Schlagwort erst ein, seit ihn Reichskanzler Wirth ausgesprochen hatte und im Zusammenhang mit dem Mord an Rathenau im Juli 1922 ein Gesetz zum Schutz der Republik in Kraft trat. Von diesem erwarteten viele, dass es zu wirksamer Eindämmung terroristischer Aktionen rechter Kräfte genutzt würde. In der Praxis handhabten es die Regierenden der Weimarer Republik zumeist gegen Kommunisten, Sozialisten und Pazifisten.

Zweifellos war die Äußerung Wirths unmittelbar der Situation geschuldet. Ihr Inhalt entsprang jedoch voll und ganz den Auffassungen eines Mannes, der als Mitglied der katholisch-großbürgerlichen Zentrumspartei den Idealen der Revolution von 1848/49 huldigte und sich wortgewaltig für das Ende des Weltkrieges eingesetzt hatte. Wirth entstammte einem sozial und politisch engagierten katholischen Elternhaus, dem Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit keine leeren Begriffe, sondern Handlungsanspruch bedeuteten. Seine Vision eines »sozialen und demokratischen Volksstaates« ließ ihn häufig in Konflikt mit der Führung der Zentrumspartei geraten. Gegen deren Kurs, sich nach rechts zu öffnen, opponierte er in den folgenden Jahren und spielte zeitweilig mit dem Gedanken, aus der Fraktion auszutreten.

Dass Wirth im Lager republikanischer Demokraten nicht allein stand und Politiker anderer Parteien der »Mitte« ebenfalls die Feststellung »Der Feind steht rechts« aufgriffen, bewies unter anderem Hugo Preuß, der 1918/19 großen Anteil an der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung genommen hatte. Als er 1924 eine Rede anlässlich des Verfassungstages hielt, wiederholte er bewusst den Wirth’schen Satz und kritisierte als Erbübel, Schwäche und Kurzsichtigkeit des deutschen Bürgertums, das leider dazu neige, »die Gefahren von links mit einem Vergrößerungsglas und aus Furcht vor diesen Gefahren die von rechts gar nicht zu sehen.«

Aus solcher Erkenntnis - vielfach und mit bissiger Schärfe formuliert von Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und andere mehr - wäre verantwortungsvolle Politik auf einen Ausbau der Weimarer Demokratie zu richten gewesen, auf deren verstärkte und breitere Anwendung, auf ihre Sicherung durch ernsthafte Schwächung alter und neuer rechtsradikaler Feinde der Republik. Doch als die Weltwirtschaftskrise begann, der Reichsverband der Deutschen Industrie als Alternative »Aufstieg oder Niedergang« vorgab und die NSDAP ihre ersten größeren Erfolge errang, schienen die Warnungen von Wirth und Preuß der Mehrheit unter den bürgerlichen Parteien nicht mehr opportun. Im Gegenteil: Da dominierten einerseits selbstgefällige Lobpreisungen, da wurden andererseits - war von Gefährdungen der Demokratie die Rede - diese vor allem den Linken, sowohl den Kommunisten als auch sozialdemokratischen Organisationen, zugeordnet. Neurotische Furchtsamkeit und hysterische Realitätsverkennung führten zu immer weiter nach rechts gewendeten Formen parlamentarisch-demokratisch verfasster Herrschaftssysteme und ließen bedenkenlos, nahezu gierig nach der sich anbietenden rechtsextremen »Hilfe« greifen.

Joseph Wirth, Ende März 1930 als Chef des Reichsinnenministeriums eingesetzt, verlor dieses Amt im Oktober 1931. Übernommen wurde es von Wilhelm Groener, General der Reichswehr.

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